Her mit den Transformations-Milliarden

Ein Appell von Volker Tzschucke (Journalist und Geschäftsführer der Zauberberg Mediengesellschaft mbH)

Man kann nicht anders: Man muss applaudierend an der Seite stehen. Es lässt sich kaum anders bewerten als ein gelungenes Glanzstück fortdauernder Lobbyarbeit, die Energiekonzerne, Umweltverbände und die Kommunal- und Landespolitik geleistet haben – und in dessen Folge sich Deutschland nun einiges leisten wird. Der Kohlekompromiss von 2020, oder besser: die Grundlage für ein Kohleausstiegsgesetz, das das Ende der Kohleverstromung in Deutschland bis zum Jahr 2038 festschreibt, lässt sie alle siegen. Ein ganzes Gesetzespaket sorgt dafür, dass rechtliche Verbindlichkeit herrscht.

Die Betreiber von Braunkohlekraftwerken erhalten 4,35 Milliarden Euro dafür, dass sie schrittweise stoppen, was schon lange niemand mehr mag: die Zerstörung riesiger Landschaften, die Umsiedlung von Menschen und Orten, die Abholzung uralter Wälder, den massenhaften Ausstoß klimafeindlicher Gase: Unter den zehn emissionsintensivsten Industrieanlagen Europas finden sich drei Lausitzer Braunkohlekraftwerke. Zur finanziellen Entschädigung für die Herstellung des gesellschaftlichen Konsenses ist ihnen zu gratulieren – erst recht auch heute noch vor dem Hintergrund, dass die dahinterstehenden Konzerne in der aktuellen Energiepreiskrise nicht nur mit ihrer fossilen Kohle riesige Gewinne einfahren. Zudem werden sie aktuell durchaus dazu ermuntert, stillgelegte Kraftwerke aus der Reserve zu holen – und auch damit wieder Gewinne zu machen, die sie sich schon gar nicht mehr erträumt hatten. Die Politik hat dafür den Begriff „Zufallsgewinne“ erfunden.

„Die Betreiber von Braunkohlekraftwerken erhalten 4,35 Milliarden Euro dafür, dass sie schrittweise stoppen, was schon lange niemand mehr mag.“

Und auch die sogenannten „Kohleregionen“ in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, in Sachsen-Anhalt und Sachsen profitieren vom Kompromiss. Insgesamt 40 Milliarden Euro werden ihnen vom Bund zur Verfügung gestellt, um den aus dem Ausstieg resultierenden Strukturwandel abzufedern. 25.000 Arbeitsplätze, so rechnete es das ARD-Hauptstadtstudio 2021 aus, gibt es derzeit noch im Kohleabbau und der Verstromung. Einige weitere 10.000 sind mittelbar betroffen – bei Handwerkern oder Zulieferern, Bäckern oder Wohnungsunternehmen. Für all diese Stellen soll mithilfe der nicht ganz kleinen Summe in anderen Branchen Ersatz geschaffen werden. 

Geld, um die Regionen zu befrieden

Allein in die Lausitz in ihren brandenburgischen und sächsischen Teilen sollen in den kommenden zwei Jahrzehnten deshalb 17 Milliarden Euro Strukturwandelförderungen fließen. Allein bis Ende der aktuellen Förderperiode bis Ende 2027 stehen im „Just Transition Fund“ der Europäischen Union 645 Millionen Euro Strukturmittel für Sachsen bereit – 375 Millionen Euro im Lausitzer Revier, 200 Millionen im Mitteldeutschen Revier, 70 Millionen in der Stadt Chemnitz – wie die Staatsregierung auf ihrer Seite „Europa fördert Sachsen“ erklärt, sei dies eine „dringend notwendige Ergänzung der Förderung aus dem Strukturstärkungsgesetz“.

Es sei ihnen gegönnt: Den letzten Transformationsprozess infolge der politischen Wende in der DDR überstand das Lausitzer Revier mehr schlecht als recht. „Die Erfahrungen des Strukturbruchs in den 1990er Jahren sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert“, weiß ein Team um Sozialwissenschaftler Johannes Stemmler vom Projekt „Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz“: „Derzeitige Herausforderungen – beispielsweise die soziale, demografische und infrastrukturelle Erosion ländlicher Räume – wiegen umso schwerer.“

So siedelt sich jetzt ein ICE-Instandhaltungswerk in Cottbus an und ein nationales Großforschungszentrum soll entstehen – nach einer Entscheidung Ende September 2022 das „Deutsche Zentrum für Astrophysik – Forschung. Technologie. Digitalisierung (DZA)“.  Dass solche Institutionen in der Realität oft eher wenig zum Strukturwandel beitragen, ermittelte jüngst das in Dresden ansässige ifo Institut im Auftrag des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): „Sie ziehen nur selten neue Arbeitskräfte an, die zusätzliche wirtschaftliche Impulse auslösen könnten“, heißt es resümierend in der Studie. Stattdessen brauche es eine gute Infrastruktur, Arbeitsplätze für Familienmitglieder, schöne Wohnungen. Also wird die Lausitz auch mit Straßen, Schienen und digitaler Infrastruktur für den Verlust an wirtschaftlicher Substanz entschädigt. Die ansässige Bevölkerung soll erleben, dass sie nicht erneut allein gelassen wird, dass der Bruch diesmal ein wirklicher Wandel werden soll. Letztendlich geht es auch darum – so schreibt oben genanntes Forscherteam ebenfalls und so bekräftigt es Sachsens Ministerpräsident regelmäßig – das Vertrauen der Lausitzerinnen und Lausitzer in demokratische Institutionen und Prozesse zurückzugewinnen und zu festigen. Auch dies sei ihnen und natürlich auch den anderen Kohleregionen gegönnt.

Nur kein Neid

Mitnichten geht es hier darum, einen mühsam ausgehandelten Kompromiss anzuzweifeln. Es geht auch nicht darum zu fragen, ob man das Geld nicht woanders sinnvoller einsetzen könnte (denn diese Frage muss, wann immer sie gestellt wird, beinahe immer mit „ja“ beantwortet werden und steht deshalb zurecht unter Whataboutism- Verdacht).

Aber es gilt doch die Frage zu stellen, warum Strukturwandel in anderen Branchen nicht ebenso stark gefördert wird. Nehmen wir die deutsche Solarindustrie: Einst Weltmarktführer, ließ man deutsche Hersteller im Stich, als chinesische Firmen auch dank staatlicher Subventionen reihenweise in den Markt eindrangen. Das Ergebnis ist bekannt: Deutsche, auch südwestsächsische Unternehmen konnten nicht mehr mithalten und heute ist Deutschlands Energiewende unter anderem davon abhängig, ob im Suezkanal ein Schiff verkantet. Es waren politische Entscheidungen, die im Lichte aktueller Entwicklungen als genauso bedenklich zu betrachten sind wie das lange Festhalten an Nordstream 2. Oder nehmen wir die Automobilindustrie. Auch hier ist ein Umstieg gleichermaßen ökologisch sinnvoll wie politisch gewollt: Das Aus des Verbrennungsmotors wird auf EU-Ebene beschlossen, um keinem Mitgliedsstaat Fluchtwege zu öffnen. Dass mit eben diesen Verbrennern erhebliche Teile der europäischen Wertschöpfung erarbeitet werden, dass Millionen Jobs davon abhängig sind, die nun von einem Transformationsprozess betroffen sind, scheint erstmal keine Milliarden wert. Allein in Südwestsachsen beispielsweise hängen, so schätzt es die IHK Chemnitz, 60.000 bis 80.000 Arbeitsplätze unmittelbar oder mittelbar an der Automobilindustrie. 500 Zulieferer und nochmal 200 weitere Dienstleister könnten durch die Umstellung des PKW vom Verbrennungs- auf den Elektromotor, aber auch durch weitere Wandlungen des Mobilitätsverhaltens in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sein.

Was es bedeutet, wenn das regionale Zugpferd Schwierigkeiten hat, ließ sich in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig beobachten: „Wenn Volkswagen hustet, bekommt die Region Fieber“, heißt es – und es bewahrheitete sich beispielsweise in den Ausläufern der Finanzkrise nach 2008. Oder auch in der Insolvenz der ES Guss Schönheide GmbH, die es wagte, sich mit einem Lieferstopp den Branchengepflogenheiten zwischen EOMs und Lieferanten zu entziehen – und daran kaputtging. Was also, wenn Volkswagens Elektrisierungsstrategie nicht aufgeht? Wenn überhaupt auch in diesem Sektor europäische Autohersteller nicht mithalten können mit Anbietern aus Asien oder Amerika, wie es bei der Solarindustrie der Fall war? Steht die Region dann im Regen?

Ein fruchtbarer Boden

Es müssen ja nicht gleich 40 oder 17 Milliarden sein – doch ein bisschen mehr Unterstützung für den Strukturwandel in der Automobilindustrie wäre sicher angebracht. Zumal es in der Zulieferindustrie – hier in der Region – gut angelegtes Geld wäre: Seit mehr als zehn Jahren beschäftigen sich die regionalen Automobilzulieferer mit dem Transformationsprozess, erklärt Matthias Lißke, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Erzgebirge. Sie versuchen, sich aus der Branchenabhängigkeit zu befreien, mit ihren teils hochspezialisierten Fertigkeiten andere Märkte zu erschließen, die über „alles rund ums Auto“ hinausgehen. Förderungen dafür müssen mühsam und langwierig erschrieben werden, sei es, um Innovationsnetzwerke wie SmartERZ oder HZwo zu gründen, sei es, um Transformationsprozesse institutionell zu begleiten wie im Projekt „ITAS - Initiative Transformation in der Automobilregion Südwestsachsen“ – und die so eingeworbenen Summen reichen selten an die sprichwörtlich gewordenen Peanuts (damals: 50 Millionen DM) heran.

Echte Fördermilliarden jedenfalls würden in Südwestsachsen auf fruchtbaren Boden fallen: Seit Jahrhunderten ist die Region das industrielle Rückgrat Sachsens. Das begann mit den Rohstoffen und Reichtümern, die in den Bergwerken des Erzgebirges gehoben wurden. Es ging weiter über textile Produkte, die in Crimmitschau, Limbach, Plauen oder Chemnitz hergestellt und in Leipzig vermarktet wurden. Von Chemnitz und dem Erzgebirge aus nahm die industrielle Revolution mit Maschinen- und Fahrzeugbau in Sachsen ihren Lauf, in DDR-Zeiten war Karl- Marx-Stadt der Industriebezirk eines ganzen gar nicht freien Staates und auch im Freistaat findet industrielle Wertschöpfung vor allem hier statt. Vom Strukturbruch 1990 war die Region nicht minder betroffen als andere Regionen – mit ähnlichen Auswirkungen: Arbeitsplatzabbau, Fortzug, mühsamer Wiederaufbau, Vertrauensverlust in das bundesrepublikanische System.

„Transformationen sind hier seit Jahrhunderten fast ebenso traditionell wie beleuchtete Fenster zur Weihnachtszeit.“

Transformationen sind hier seit Jahrhunderten fast ebenso traditionell wie beleuchtete Fenster zur Weihnachtszeit. Dieser Umstand macht jeden neuen Wandel für Südwestsachsen ein Stück weit einfacher: Die Wirtschaft ist thematisch dank regelmäßigen Revolutionen heute breit aufgestellt. Beeinträchtigungen einer einzelnen Branche wirken sich deshalb weniger stark aus als in monothematischen Regionen. Für beinahe jeden innerbetrieblichen Neuanfang gibt es in der Nachbarschaft bereits ein gelungenes Beispiel, wenn nicht gleich ein wachstumswilliges Netzwerk aus potenziellen Partnern. Eine hightechorientierte Gründerszene muss nicht erst importiert werden, sie ist schon da. Es mag Provinz sein, doch sie ist progressiv. Nicht zuletzt hat der regelmäßige Umgang mit Krisen, mit Änderungen in der Wirtschaftsstruktur einen Menschenschlag, den Erzgebirger, hervorgebracht, der nur selten aus der Ruhe zu bringen, der findig und fähig ist.

Darum kann es eigentlich nur heißen: Her mit den Transformationsmilliarden! Denn ob ein Transformationsprozess hart oder abgefedert ist, er schneller oder langsamer zu sichtbaren Erfolgen führt – da macht Geld schon einen entscheidenden Unterschied. In Südwestsachsen könnte es den Ausbau der Infrastruktur – von einer guten Basis ausgehend – beschleunigen. Es könnte Rück- und Zuwanderung befördern, um demografische Entwicklungen umzukehren. Es könnte Unternehmen bei Innovationsprozessen, Produktionsumstellungen oder Markteroberungen unterstützen. Und ja, wenn es so sein soll, werden auch ein oder zwei Forschungsinstitute errichtet.

Text: Volker Tzschucke
Foto: Günther Hertwig auf Pixabay 


Magazin „hERZwerk“

Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin hERZwerk – „Das Wirtschaftsmagazin für die progressive Region Erzgebrige“. Hier kann das gesamte Magazin online gelesen oder als PDF heruntergeladen werden.

Alle Infos zum Magazin „hERZwerk“