„Fragen, was es dem Mitarbeiter bringt“
Eine solche Entwicklung war kaum abzusehen, als die Staaten des sozialistischen Wirtschaftsblocks in den 1970er Jahren beschlossen, künftig in der Textilproduktion auf Flachs- und Hanffasern zu verzichten. Für eine Flachsspinnerei in Wiesenbad bedeutete das, sich nach neuen Materialien umschauen zu müssen. Gemeinsam mit dem heutigen Sächsischen Textilforschungsinstitut wurde das Norafin-Verfahren entwickelt: Der Vorgang ähnelt dem handwerklichen Verfilzen, bei dem Vliesfasern durch tausende Nadelstiche zu einem Gewebe verbunden werden. Statt Nadeln nutzt man im Norafin-Verfahren Wasserstrahlen – der Effekt ist ähnlich: Es entstehen verfestigte textile Flächengebilde. Der Unternehmensname Norafin spiegelt noch heute diese Entwicklung: Der Bestandteil „Nora“ steht für „bewegtes Wasser“ auf Lateinisch, „fin“ für „Forschungsinstitut". Ab 1983 konnte man nach diesem Verfahren arbeiten.
Die Wirren der Nachwendezeit brachten nicht nur einen Ortsumzug aus der alten Wiesenbader Flachsspinnerei auf die grüne Wiese in Mildenau mit sich – 1997 wurde die erste Nadelvlieslinie am heutigen Standort in Betrieb genommen – , sondern auch stetige Eigentümerwechsel. Der heutige Mitgesellschafter André Lang startete seine Karriere in den 1990ern als Innovationsassistent einer früheren Betriebsleitung, seit 2008 leitet er die Geschicke als Geschäftsführer. Und ist er der Assistentenrolle auch längst entwachsen, der Innovation fühlt er sich bis heute verpflichtet.
Norafin hat sich einen Namen als Hersteller von Textilien für Spezialanwendungen gemacht – die Innenauskleidung von Birkenstocksohlen ist nur ein Beispiel. Andere sind Filtertextilien für Zementwerke, langlebige Reinigungstücher für Putzprofis, saugfähige Medizintextilien oder Stoffe für die Arbeitskleidung von Feuerwehrleuten oder Metallurgen sowie Flachstapeten. Aktuell erforscht man unter anderem Vliesstoffe zur Auskleidung von Brennstoffzellen, die Nutzung der Wasserstrahltechnik für extrem kleine Flächen oder die 3D-Wasserstrahlverfestigung.
Digitalisierung für alle
Das Unternehmen ist inzwischen so erfolgreich, dass es 2017 eine erste Produktionslinie im US-amerikanischen Mills River eröffnete, 2019 wurde das Werk dort erweitert. Mit der Corona-Pandemie funktionierte plötzlich der Austausch von Mitarbeitenden nicht mehr. „Wir haben dankenswerterweise frühzeitig auf Digialisierung gesetzt – so war das kaum ein Problem“, sagt Lang. Es gibt beispielsweise von jeder Maschine sowohl am deutschen wie am amerikanischen Standort einen digitalen Zwilling. Circa 300 Parameter muss der Maschinenbediener steuern, sie alle werden digital aufgenommen und verarbeitet – etwa zur Fernüberwachung von Prozessen: „Mit Ferneingriffen halten wir uns aber weitestgehend zurück.“ Es gibt eine digitale Rezeptverwaltung und auch die Buchhaltungssoftware beider Standorte ist natürlich in Echtzeit miteinander vernetzt.
„Wichtig war, die Mitarbeitenden bei diesem Digitalisierungsprozess mitzunehmen“, berichtet Lang. „Wir haben dafür in einem Projekt mit der TU Chemnitz gefragt, mit welchen Daten die Produktion etwas anfangen kann.“ So wurde beispielsweise in den Werkhallen visualisiert, wie viel Zeit noch bis zum Schichtende ist – damit die Maschinenbediener einschätzen können, welche Arbeitsprozesse man noch anstoßen kann. „Wir haben auch sehr konkret Strom- und Gasverbrauch angezeigt. Das hat aber keinen großen Nutzen gebracht. Jetzt verwenden wir hierfür ein Ampelsystem, an dem sich die Kollegen orientieren können“, so Lang. Die Arbeitsdokumentation im Schichtbuch wurde digitalisiert – durch die daraus resultierende Vereinheitlichung der Sprache über die Arbeit und die Technik lassen sich wiederholt auftretende Probleme schneller erkennen. „Leitfrage war immer: Was bringt es dem Mitarbeiter – um das herauszufinden, muss man ihn natürlich fragen.“
Im Mildenauer Werk gibt es inzwischen auch ein digitales Lernmanagement-System. Hier werden beispielsweise Arbeitsschutzkurse durchgeführt, für die Absolvierung erhalten die Mitarbeitenden Punkte: „Da ist inzwischen ein regelrechter Wettbewerb unter den Kollegen entstanden, obwohl mit dem Punktsystem keine Monetarisierung verbunden ist. Das hat für uns den Vorteil, dass sich viel mehr Mitarbeiter konsequent und regelmäßig mit solchen Fragen beschäftigen.“ Auch arbeitsplatzbezogene Tipps und Tricks sind im System zu finden – als schnelle Hilfe bei tagesaktuellen Problemen oder wenn ein Mitarbeiter spontan ausfällt und ersetzt werden muss. „Damit sich die Kollegen damit beschäftigen können, haben wir zusammen mit Designern der Fakultät für angewandte Kunst Schneeberg in der Produktionshalle eine spezielle Meeting-Area eingerichtet: produktionsnah, aber ruhig.“ Das Modell, das momentan nur für die 160 Angestellten am Hauptsitz etabliert ist, soll demnächst auch in den USA eingesetzt werden, wo inzwischen 40 Menschen arbeiten.
Doch nicht nur bei Produktentwicklung oder Digitalisierung geht Norafin neue Wege, sondern auch bei der Mitarbeiter-Akquise. „Wir wollen immer wieder eine Lanze brechen für die lokale Textilindustrie“, sagt Lang. So gibt es fest verabredete Praktikumstage mit der Oberschule in Großrückerswalde. Im Onboarding-Prozess werden die Eltern mit-genommen, für frische Auszubildende gibt es ein dreitägiges Azubi-Camp, das Norafin gemeinsam mit seinen Nachbarunternehmen im Gewerbegebiet durchführt. Die Bemühungen zahlen sich aus: „2023 haben wir acht neue Ausbildungsverträge geschlossen – das ist für uns Rekord.“