Fortschrittsregion vs. Traditionsbewusstsein
Fortschritt und Tradition – welche Rolle spielen beide Aspekte in Ihrer täglichen Arbeit im Regionalmanagement Erzgebirge?
Dr. Peggy Kreller: Das Thema „Innovation und Tradition“ begleitet uns im Regionalmanagement Erzgebirge schon sehr lange. Zu der Zeit, als ich im Jahr 2012 als Projektleiterin die Stelle annahm, wendete man sich gerade vom Thema Tradition im Marketing bewusst ab. Hintergrund war, dass die Menschen gerade außerhalb der Region mit dem Erzgebirge bereits sehr stark all das Traditionelle wie Kunsthandwerk und Weihnachten assoziieren. Wir wollten zeigen, dass die Realität doch eine ganz andere ist. Denn ein Drittel der Erzgebirger ist in der Industrie tätig. Deshalb wollten wir mithilfe der damaligen Kampagne verdeutlichen, dass wir ein Industriestandort sind. Eine nachgelagerte Imageanalyse in 2015 zeigte jedoch: Das Image des Erzgebirges hatte sich trotz der Kampagne nicht verändert – die stärksten Assoziationen der Region beziehen sich weiterhin auf Bergbau und Volkskunst. Logische Folge für uns war, nun Verbindungen zu schaffen zwischen Tradition und Moderne. Unsere Imageanalyse letztes Jahr ergab erneut, dass die Region einfach mit vielen traditionsbewussten Themen verbunden ist. Und auch wenn wir uns jahrelang dagegen gesträubt haben, ist es viel besser zu zeigen, dass Innovation aus unserer Tradition heraus wächst. Und eine unserer Traditionen bzw. ein Teil unserer DNA ist es doch zu tüfteln und zu basteln.
Die IHK ist ja auch für die modernen Aspekte der Wirtschaft in Theorie und Praxis zuständig. Kommen Sie da manchmal in Konflikte?
Andrea Nestler: Nein – weil sich beides gegenseitig befördert. Unsere Traditionen haben der Region schon oft über manche Krise geholfen und die Innovationen sind dazu da, neue Wege zu beschreiten und so auch Defizite auszugleichen. Heutzutage genügt es nicht, dass nur ein Produkt innovativ ist, sondern auch die Verfahren dahinter. Wir sind eine Region aus Tüftlern und Entwicklern, in der viele Unternehmer immer wieder kreativ werden. Gerade in den letzten Jahren, wo vieles wirtschaftlich schwierig war, wurde es wichtig, das Traditionelle mit dem Neuen zu verknüpfen. Es ging darum, weiter bestehen zu können und nach außen zu zeigen: Wir haben Ideen. Mit diesen sind unsere vielen kleinen Unternehmen zum Teil auch auf dem Weltmarkt sehr erfolgreich.
Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht Tradition bei Fortschritt? Fördert sie oder hindert sie eher Prozesse an Ihrer Hochschule?
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold: Also prinzipiell geht vieles ohne eine Kopplung von Tradition und Innovation gar nicht. Wenn man zum Beispiel die Volkskunst während der Corona-Zeit hernimmt. Corona kam, die Läden blieben zu, der Verkauf stockte. Webshops wurden zur einzigen Möglichkeit, um begehrte Sachen zu verkaufen. Denn man sieht ja auf den Weihnachtsmärkten: die traditionellen Produkte aus dem Erzgebirge werden stark gewollt. Also musste man innovative Wege gehen, um Sachen zu verkaufen. Durch Corona gab es schließlich einen großen Schub im Bereich Digitalisierung. Man wurde gezwungen, sich mit anderen Vertriebskanälen zu beschäftigen. Das ist ein gutes Beispiel, wo man sieht, dass beides miteinander verkoppelt gut funktioniert. Oder anders gesagt: dass man mit Tradition ausschließlich nicht bestehen kann. Ein anderer Aspekt ist, einen vernünftigen Kompromiss hinzubekommen. Wenn ich zum Beispiel mein Handy verliere, dann kann ich kein Banking machen, nicht mehr Bahn fahren. Manche kommen vielleicht ohne App nicht mal mehr in ihr eigenes Haus. etc. Vielleicht sollte man auch mal ein bisschen die Bremse reinhauen.
Gab es schon einmal eine Situation, wo Sie sagten: Jetzt scheitert es an der Tradition, also zum Beispiel an Verhaltensmustern, die aus dem Traditionsbewusstsein resultieren? Ich denke auch an Investoren, die von außen kommen...
Andrea Nestler: Ich denke, der Erzgebirger braucht manchmal etwas mehr Bedenkzit, bevor er zum nächsten neuen Schritt ansetzt. Es braucht hier in der Region manchmal einen längeren Atem, um Menschen mit traditionsbewusstem Denken von einer neuen Sache zu überzeugen. Aber wenn man diese überzeugt hat, dann sind sie voll dabei und stehen zu ihrem Wort.
Dr. Peggy Kreller: Es ist tatsächlich so, dass das Erzgebirge von außen fremdenfeindlich und konservativ wahrgenommen wird. Wir bekommen das mit Kommentaren bei Social Media gespiegelt. Es ist bedenklich, dass Menschen, die die Region gar nicht kennen, alle in einen Topf werfen bis am Ende bleibt: Die leben hinterm Berg und sind ausländerfeindlich. Unsere Imageanalyse zeigt, dass die Erzgebirger stark mit ihrer Heimat verbunden sind. Das ist einerseits ein Pfund, was wir haben, denn die Menschen stehen zur Region. Aber es führt auch dazu, dass Fremdes als störend wahrgenommen wird. All das, was wir aufbauen im Sinne „Das Erzgebirge ist eine progressive Provinz“ wird damit schnell wieder zerstört.
Digitalisierung führt dazu, dass Haptik, echtes Erleben immer mehr fehlt. Andererseits müssen wir den Umgang mit elektronischen Medien lernen. Ist Digitalisierung nun schlecht oder gut?
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold: Manche Leute sagen zu mir: Du bist doch eine wichtige Person und in vielen Gremien unterwegs, da musst du doch hier und da angemeldet sein. Dabei muss man das alles mit Augenmaß sehen. Ich arbeite kaum mit Facebook und Co, nur das, was geschäftlich notwendig ist. Ehrlich, ich weiß gar nicht, was es alles gibt. Da kommen doch täglich neue Plattformen dazu (lacht). Und gerade was die ganzen appgesteuerten Sachen betrifft, sollte man die Datensicherheit im Auge haben. Ich finde Fortschritt und Digitalisierung gut, auch weil es mein fachliches Thema ist: Aber es gibt nicht ohne Grund schon Fachgruppen zur digitalen Ethik....
Wie wirken sich moderne Medien konkret in Ihrem Hochschulbereich aus?
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold: Wir sind größtenteils eine regionale Hochschule, um Fachkräfte auszubilden. Aber es kommen auch durch unsere Bewerbung einige Studenten aus anderen Bundesländern und sogar aus Österreich. Und ich kenne einige, die geblieben sind. Die Lebenshaltungskosten sind in Österreich immens. Von den Kosten der Studenten hier träumt man dort. Für das Geld eines Zimmers hier bekommt man dort eine Besenkammer. Und dann haben sie sich im Studium eingelebt und bleiben hier.
Ist das denn noch so, wie es immer hieß: Das Erzgebirge ist billig?
Andrea Nestler: Das Image versuchen wir aufzubrechen. Denn ganz realistisch betrachtet ist es nicht mehr so. Unternehmen müssen Mitarbeiter halten und neue finden. Das Thema Lohn spielt da eine große Rolle, aber auch Sonderleistungen und Benefits, wie z.B. die Übernahme der Kita-Gebühren, Zusatzleistungen im Gesundheitsbereich, Zuschüsse für Mitgliedschaften in Sportvereinen … etc. Andererseits sind die Lebenshaltungskosten im Erzgebirge günstiger, was z.B. die Mieten betrifft. Am Ende muss man immer das Gesamtpaket sehen, welches dem Arbeitnehmer zur Verfügung steht.
Dr. Peggy Kreller: Es ist auch statistisch belegt, dass wir nicht mehr die Billiglohnregion sind. Es gibt fünf verschiedenen Kennzahlen, wie man Einkommen darstellen kann. Oft wird nur das dargestellt, wo wir regional ganz hinten stehen. Das Statistische Landesamt aber sagt, die beste Kennzahl, um Einkommen zu dokumentieren ist das verfügbare Einkommen im Haushalt. Und da liegt das Erzgebirge über dem sächsischen Durchschnitt. Wir müssen uns nicht verstecken, wenn auch es noch schwarze Schafe gibt. Und: Der Erzgebirger ist auch keiner, der regelmäßig zum Chef geht und sagt: Ich möchte mehr Geld. Mancher schaut sich vielleicht um, was andere zahlen würden und geht dann zum Chef. Der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt, das hat noch nicht jeder Geschäftsführer mitbekommen.
Langfristig fehlt es an Bewerbern. Gibt es Zukunftsprojekte, wie wir Menschen von außen begeistern und Zuwanderung erzeugen bzw. junge Menschen für ihr Erzgebirge begeistern?
Andrea Nestler: Für junge Leute wurde noch nie so viel Berufsorientierung gemacht wie heute: z.B. die Woche der offenen Unternehmen, Ausbildungsmessen, Talenteworkshops oder die Spätschicht, wo die ganze Familie ein Unternehmen anschauen und sich über Berufsbilder informieren kann. Den Jugendlichen stehen so viel Möglichkeiten und Chancen offen. Und alle diejenigen, die erstmal in die Welt hinaus möchten, denen kann ich nur mit auf den Weg geben: Geht woanders hin, macht eure Erfahrungen, aber vergesst eure Wurzeln nicht und kommt zurück.
Dr. Peggy Kreller: Wir brauchen in den nächsten zehn Jahren, für jene, die in Rente gehen 30.000 Fachkräfte. Um dieses Problem gemeinsam anzugehen, ist seit über fünf Jahren die Fachkräfteallianz Erzgebirge unter Leitung der Wirtschaftsförderung Erzgebirge und Partnern wie der IHK, der Agentur für Arbeit, der Kreishandwerkerschaft etc. aktiv. Mit Unterstützung von Fördermitteln aus der Fachkräfterichtlinie des Freistaats können damit Projekte wie das Welcome Center Erzgebirge oder die Jugendplattform Makerz.me umgesetzt werden. Darüber hinaus trägt unsere Arbeit im Regionalmanagement Erzgebirge zum Beispiel mit unserer Hammerkampagne dazu bei, Menschen aus Metropolregionen wie Berlin auf das erfüllte Leben im Erzgebirge aufmerksam zu machen.
Sind wir überhaupt eine Fortschrittsregion und falls nicht, was wäre eine Strategie, das Erzgebirge wirtschaftlich zu entwickeln?
Dr. Peggy Kreller: Wenn man Innovation als definierten Begriff im engeren Sinn sieht, sind wir es nicht. Innovation in Studien misst sich an Kriterien wie der Patentintensität oder an der Zahl der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Das findet zwar auch hier statt, aber wir oft nicht erfasst. Wir übersetzen für uns den Begriff im Sinne der vielen Tüftler und Bastler, die es gibt. Das ist fest in unserer DNA über die Jahrhunderte verankert, seit der Bergbau vor über 800 Jahren begann. Lösungen zu finden – das kann der Erzgebirger gut. Aber es gibt auch Projekte, die hochinnovativ sind, zum Beispiel den Smart Rail Connectivity Campus oder Smart Composites Erzgebirge. Bei dem Projekt geht um funktionsintegrierte Faserverbundwerkstoffe (sog. Composites). Im diesem Bündnis arbeiten inzwischen mehr als 200 Partner aus Wirtschaft, Forschung und Hochschulen zusammen. Das Problem bisher war, dass bei Forschungsprojekten an Unis und Hochschulen zu wenig entstanden ist, was tatsächlich in der Wirtschaft genutzt werden konnte. Mit den WIR-Projekten (Anm. Wandel durch Innovation im ländlichen Raum) sind wir auf einem guten Weg, da hier nun auch Unternehmen zu 50 Prozent gefördert werden.
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold.: Ähnlich ist auch meine Erfahrung. Die Hochschulen brauchen für ihre Projekte zur Umsetzung Praxispartner, aber wir waren lange zu autark. Die Nähe zu den Unternehmen tut der Region gut und so werden die Fördergelder auch sinnvoll genutzt.
Verhindert das ganze gesetzliche Drumherum manchmal auch Fortschritt?
Andrea Nestler: Ja! Gerade im Bereich Förderung. Für viele Unternehmen ist das Prozedere rund um die Förderanträge zu zeitaufwendig und zu schwierig. Das ist schade, wenn Unternehmer eine gute, förderfähige Idee haben, die dann an der Komplexität und hohen Vorgaben in den Anträgen scheitert.
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold: Wir haben mit unserer kleinen Hochschule den Vorteil, dass wir bei vielen Dingen flexibler agieren können als große Hochschulen. Der Weg zum Rektor für Entscheidungen ist kurz. Wir machen viele innovative Projekte gerade auch im Bereich Elektromobilität mit den Zulieferern. Und da liegt auch unser Anspruch: Wir wollen als regionale Hochschule vorrangig Ingenieure ausbilden, die in der Region bleiben.
Andrea Nestler: Im Erzgebirge herrscht die Hands-on-Mentalität vor, also anpacken statt seitenweise Papier beschreiben. Die Unternehmen bedienen Nischen, bieten spezielle Lösungen an, haben sogar manchmal selbst kleine Forschungslabore. Getüftelt wird dann bis die perfekte Lösung vorliegt – oftmals ganz unbürokratisch.
Unsere Wege bezogen auf die Infrastruktur sind im ländlichen Raum lang. Gibt es Konzepte, mit denen wir Vorreiter sein können?
Dr. Peggy Kreller: Das können wir. So ein Ansatz ist zum Beispiel das Projekt Smart City in Zwönitz, wo ja schon Lösungen umgesetzt werden, um die Lücken im örtlichen Nahverkehr zu schließen. Für solche Pilotprojekte gibt es Fördermittel und es werden Lösungen geschaffen, die man anschließend gut auf andere Kommunen übertragen kann.
Haben wir zu viel Understatement in der Region, heißt zeigen wir zu wenig, was wir können?
Dr. Peggy Kreller: Wir sind Weltmeister im Tiefstapeln – war mal ein Plakatspruch von uns. Also: wir arbeiten dran, dass die Erzgebirger selbstbewusster werden.
Prof. Dr.-Ing. Rigo Herold ist Professor für Digitale Systeme an der Westsächischen Hochschule in Zwickau und Inhaber des Unternehmens data glasses, das auf die Entwicklung, Systemintegration und Herstellung von Datenbrillen spezialisiert ist.
Andrea Nestler ist Referentin für Weiterbildung I Regionalentwicklung bei der IHK Chemnitz Regionalkammer Erzgebirge.
Dr. Peggy Kreller ist Projektleiterin beim Regionalmanagement Erzgebirge und stellvertretende Geschäftsführerin der Wirtschaftsförderung Erzgebirge GmbH.
Das Interview entstand am 7. Februar 2023 im Rahmen eines Tresengesprächs im Projekt „Tresen, Themen, Temperamente“ des Jugend- und Kulturzentrums Alte Brauerei Annaberg, (gefördert im Rahmen des Programms „Orte der Demokratie“ vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz und Demokratie, Europa und Gleichstellung